Immer wieder treffe ich auf Menschen, die auf irgendeine Art psychisch eingeschränkt sind. Man merkt es ihnen meistens nicht gleich an. Aber wenn man intensiver mit ihnen tun hat, wird es deutlich: da stimmt was nicht. Ob ADHS, Depression oder Persönlichkeitsstörungen – psychische Erkrankungen sind relativ weit verbreitet und es kann alle von uns treffen.
Bei Männern sehr ich oft Narzissmus und ADHS. Bei Frauen, Depressionen und Borderline. Aber das heißt nix. Ich begegne auch depressiven Männern und Frauen mit ADHS. Es ist jedoch sehr interessant, weshalb so viele Menschen betroffen sind und weshalb es so viel unterschiedliche Störungen gibt. Es scheint zum Menschen zu gehören? Oder gehört es zu unserer Zivilisation zum Patriarchat?
Normal unnormal
Psychische Erkrankungen sind längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen – und trotzdem noch immer mit Scham, Unwissenheit und Vorurteilen behaftet. In ihrem klugen und zugleich sehr persönlichen Buch „Spinnst du?“ rückt Sonja Koppitz die Psyche ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Was als ehrlicher Selbstbericht über ihre depressiven Episoden beginnt, entfaltet sich zu einer umfassenden, journalistisch präzisen und philosophisch durchdrungenen Erkundung des Themas psychische Gesundheit.
Radikal subjektiv – und gerade deshalb so nahbar
Koppitz schreibt offen über ihre Depressionen, über das Gefühl, innerlich leer zu sein, obwohl äußerlich alles „funktioniert“. Sie schildert, wie sie sich selbst über Monate hinweg beobachtet, misstraut und permanent auf Anzeichen der nächsten Episode achtet. Diese Selbstbeobachtung wird zum roten Faden im Buch – sie ist ebenso Schutzmechanismus wie Erkenntnisinstrument. Ihre Sprache ist dabei von großer Klarheit, manchmal bitter, oft selbstironisch und nie pathetisch.
Ein Monat in der Psychiatrie – mitten im Leben
Was „Spinnst du?“ von vielen anderen Büchern über Depression unterscheidet, ist der mutige journalistische Ansatz: Koppitz verbringt als Reporterin vier Wochen in der Berliner Charité-Psychiatrie, nicht nur als Beobachterin, sondern als Teil der Gemeinschaft. Sie spricht mit Mitpatient:innen, Therapeut:innen, Pflegekräften – und bringt dadurch die Realität der Psychiatrie fernab von Klischees ins Licht. Es geht um Kaffee und Kuchen, um Therapien, um Wartezeiten und um Menschlichkeit im System.
Psychische Erkrankungen als gesellschaftliche Spiegel
Das Buch ist mehr als ein Erfahrungsbericht – es ist auch eine Streitschrift gegen das Stigma psychischer Krankheiten. Koppitz fragt sich, warum Menschen mit Burn-out gesellschaftlich akzeptiert sind, während Schizophrene oder Borderline-Betroffene stigmatisiert bleiben. Warum ist „durchhalten“ eine Tugend – selbst wenn das Leiden unerträglich wird?
Sie zeigt, wie soziale Faktoren – Bildungsstand, Einkommen, Unsicherheit im Arbeitsverhältnis – ebenso zu psychischer Belastung beitragen wie genetische oder neurobiologische Ursachen. Das macht das Buch nicht nur für Betroffene, sondern auch für Angehörige und Fachkräfte bedeutsam.
Philosophie trifft auf Alltag
Besonders stark sind die Passagen, in denen Koppitz philosophische Fragen mit neurologischer Forschung und subjektivem Empfinden verbindet. Was ist die Psyche? Wo sitzt das Ich? Gibt es einen freien Willen – auch in der Depression? Diese Reflexionen heben das Buch über den üblichen Erfahrungsbericht hinaus. Koppitz schreibt nicht nur über Symptome, sie denkt über das Wesen des Menschseins nach – und stellt 64 Fragen allein in einem Kapitel. Das ist mehr Erkenntnissuche als Wissensvermittlung. Und das macht es so lesenswert.
Ein notwendiges, mutiges und zutiefst menschliches Buch
„Spinnst du?“ ist ein Buch, das Mut macht – nicht weil es Lösungen bietet, sondern weil es die Fragen ernst nimmt. Es öffnet Türen zu einer ehrlicheren, empathischeren Auseinandersetzung mit psychischer Gesundheit. Und es zeigt: Nein, du spinnst nicht. Du fühlst. Du leidest. Du bist ein Mensch. Und das ist normal.
Spinnst du?: Warum psychische Erkrankungen ganz normal sind
von Sonja Koppitz
Seiten, Rowohlt Taschenbuch 2021
ISBN 3499004194
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