Sie wollte eigentlich nur Yoga machen. Muskeln, Ausgleich, ein bisschen Ruhe im Berliner Alltag. Was Lilly stattdessen findet, ist eine Welt, in der aus einer harmlosen Probestunde ein fast zehnjähriger Absturz in Abhängigkeit, spirituelle Verblendung und sexuellen Missbrauch wird. „Toxic Tantra“ erzählt ihre Geschichte – und die von Azrael und Miranda – so dicht und gut recherchiert, dass man das Buch mit angehaltenem Atem liest.
Der unsichtbare Kipppunkt
Am Anfang steht eine Einladung, wie sie tausendfach in Großstädten verteilt wird: „Yoga und Tantra gratis!“ Ein Flyer, ein schöner Hinterhof, Vogelgezwitscher, weiße Kleidung, freundliche Menschen. Dann die erste „Yang-Spirale“, eine Meditation mit Musik, bei der Lilly plötzlich etwas erlebt, das sie selbst kaum fassen kann: ein Gefühl wie kaltes Wasser, das den Körper füllt, ein weißes Vakuum vor den Augen, Panik. Ihre Lehrerin deutet das als „Kundalini-Erweckung“ – eine Erfahrung, für die „geübte Yogis jahrelang arbeiten“. Aus Angst wird Auszeichnung. Aus Verunsicherung ein spirituelles Versprechen. Genau in diesem Moment kippt etwas: Lilly beginnt, ihrer Wahrnehmung weniger zu trauen als der Deutung der Schule.
„Nach außen dachten alle: Die ist supersouverän. Innen drin war ich mega unsicher“ – dieser Satz zieht sich wie ein Grundton durch das Buch. Er ist exemplarisch für viele, die in solchen Gruppen landen: nicht „verrückt“, nicht „schwach“, sondern an einer empfindlichen Stelle getroffen.
Vom Yoga zur totalen Unterwerfung
Im Zentrum der Recherche steht die internationale Yogabewegung Atman mit ihrem rumänischen Gründer Gregorian Bivolaru. Offiziell geht es um „traditionelles Yoga“, um alte Lehren aus Indien und Tibet, um Meditation, Disziplin, charakterliche Entwicklung. Tatsächlich baut sich über Kursstufen und „geheime“ Einweihungen ein System aus Hierarchie und Unterwerfung auf. Der Guru wird zur letzten Instanz für Liebe, Sexualität, spirituelle Rettung. Frauen schicken Unterwäsche-Fotos, damit er ihre Aura liest, reisen an geheime Orte, um ihn zu treffen – und landen in Tantra-Sex-Ritualen, die als „heilige Praxis“ verklärt werden. Die Grenze zwischen Spiritualität und sexueller Verfügbarkeit wird nicht verwischt, sie wird systematisch eingerissen.
Alltag im sexuellen Sklavenstaat
Das Buch bleibt dabei nie abstrakt. Es geht um konkrete Frauen, die sich Haare abrasieren, weil „er“ es so will. Um junge Menschen, die mitten in Europa in Wohnungen sitzen, vor Webcams masturbieren, Stripclubs und Tantra-Rituale als Dienst an einer höheren Sache begreifen. Besonders eindrücklich sind die Passagen, in denen deutlich wird, wie umfassend das System in den Alltag greift: Schlafentzug, ständige Kurse, „Karma-Yoga“ als unbezahlte Arbeit, sozialer Druck bis hin zur Dämonisierung von Zweiflern. Wer sich entzieht, gilt als „vom Teufel besessen“. Wer bleibt, lernt, jede innere Regung als Beweis eigener Unreinheit umzudeuten.
Anziehungskraft der Vulnerablen
Gleichzeitig leisten die Autorinnen etwas, das dieses Buch von reiner Skandal-Literatur unterscheidet: Sie pathologisieren die Betroffenen nicht. Die Frage, ob „die Szene schwierige Persönlichkeiten anzieht“, beantworten sie differenziert. Ja, bestimmte Muster tauchen wieder auf: Menschen mit innerer Unsicherheit trotz äußerer Kompetenz, in Übergangsphasen, mit starkem Wunsch nach Zugehörigkeit und Sinn. Aber sie machen klar: Die eigentliche Gefahr liegt nicht in den Suchenden, sondern in Strukturen, die diese Suche ausnutzen. Manipulationstechniken wie Gaslighting, gruppendynamischer Druck und spirituelle Überhöhung wirken nicht, weil jemand „defekt“ ist – sie wirken, weil sie an sehr menschliche Bedürfnisse andocken.
Der innere Kompass für alle
Gerade deshalb ist „Toxic Tantra“ so wichtig für alle, die mit Yoga, Meditation oder Tantra liebäugeln. Hawranek und Paysen-Petersen zeigen, wie sich toxische Angebote tarnen: hinter wohlklingenden Sanskrit-Begriffen, hinter „geheimem Wissen“, hinter scheinbar radikaler Selbstverantwortung. Statt trockener Checklisten verweben sie die Warnsignale in die Geschichten: der Guru, dessen Bild überall hängt; Lehrende, die zu spirituellen Ratgeber:innen für alle Lebensfragen werden; Seminare, in denen intime Fotos plötzlich „normal“ sind; die langsame Verschiebung von Grenzen, bis der eigene Körper nur noch als Werkzeug für eine „höhere Mission“ wahrgenommen wird.
Und sie zeigen auch die andere Seite: dass es gute, verantwortungsvolle Yoga- und Tantra-Lehrende gibt, dass Berührung, Sexualität, Spiritualität an sich nichts Gefährliches haben. Gefährlich wird es, wenn Macht unkontrolliert bleibt, wenn Widerspruch als Unreife gilt und wenn ein Mensch – der Guru – plötzlich mehr Autorität über Körper und Seele bekommt als man selbst.
Am Ende bleibt ein Buch, das weit über die Tantra-Szene hinausweist. Es erzählt von einer Zeit, in der viele Menschen Halt, Tiefe und „echte Erfahrung“ suchen – und wie schnell diese Sehnsucht in Abhängigkeit kippen kann. Es gibt Leser:innen einen inneren Kompass an die Hand: Wo fängt es an, ungesund zu werden? Wo hört selbstbestimmte Praxis auf und beginnt geistige Vereinnahmung? Und vielleicht die wichtigste Frage: Traue ich meiner eigenen Wahrnehmung noch – oder lasse ich mir von einer Bewegung erklären, wer ich bin und was gut für mich ist?
Wer nach Antworten auf diese Fragen sucht, sollte dieses Buch lesen. Nicht, um Angst vor Yoga oder Tantra zu bekommen, sondern um sich und andere besser schützen zu können – und um genau zu verstehen, wie aus Spiritualität Gift wird.
Toxic Tantra: Machtmissbrauch und Manipulation im Yoga
Autoren: Christiane Hawranek, Katja Paysen-Petersen
Verlag: Ullstein Verlag
ISBN: 978-3-8437-3688-6 (Hardcover) / 978-3-430-21206-9 (Paperback)
Erscheinungsjahr: 2025
Seiten: 336
Genre: True Crime / Investigative Reportage / Sachbuch
Kategorie: Spiritualität / Missbrauch / Sektenforschung / Yoga-Kritik
Die Autorinnen
Christiane Hawranek ist Investigativ-Reporterin bei BR Recherche und hat zahlreiche Auszeichnungen für ihre Dokumentationen und Podcasts erhalten. Sie war für den Deutschen Radiopreis nominiert und unterrichtet als Dozentin für Recherche und investigatives Storytelling. Katja Paysen-Petersen arbeitet als Journalistin im Storyteam des Bayerischen Rundfunks, moderiert Podcasts wie „Entführt – der Fall Ursula Herrmann“ oder „Seelenfänger“ und berät dramaturgisch. Beide Mütter verbinden in ihrer Arbeit präzises journalistisches Handwerk mit einfühlsamer Erzählkunst.
Der Podcast „Seelenfänger – Toxic Tantra“
https://www.ardaudiothek.de/sendung/seelenfaenger/urn:ard:show:e9b4d80c46b94f77/Das Buch baut auf dem preisgekrönten Podcast „Seelenfänger – Toxic Tantra“ auf, der 2024 beim Bayerischen Rundfunk ausgestrahlt wurde. Die Autorinnen haben dort erstmals öffentlich über die Yogabewegung Atman berichtet und damit zu den Ermittlungen gegen Gregorian Bivolaru beigetragen. Das Buch erweitert die Podcast-Recherche um neue Zeugenaussagen, Konfrontationen mit der Führungsriege und vertiefte Analysen der Manipulationsmechanismen.
Leseprobe Toxic Tantra
- Toxic Tantra enthüllt die Machenschaften der internationalen Yogasekte Atman: Junge Frauen wurden darin systematisch manipuliert,...



