Es gibt Bücher, die nicht nur gelesen, sondern gespürt werden wollen. „Fühlen, was ist“ gehört zu diesen seltenen Werken, die sich leise öffnen, aber lange nachhallen. Sandra Konrad richtet den Blick auf unsere emotionale Landschaft – ein Gebiet, das wir im Alltag gern übergehen, als sei es nebensächlich. Dabei formt es alles: Beziehungen, Entscheidungen, Selbstbild.
Konrad schreibt als Psychologin, aber vor allem als aufmerksame Beobachterin menschlicher Verletzlichkeit. Sie kennt die Momente, in denen Menschen innerlich erstarren, überfordert sind, sich verlieren – und jene, in denen plötzlich Klarheit entsteht. Ihr Buch ist ein Destillat dieser Erfahrungen: leicht zugänglich, dicht, alltagsnah. Es liest sich wie eine Einladung, einen Moment stehenzubleiben und wieder zu uns selbst zu finden.
Warum Gefühle uns tragen, nicht belasten
Konrad räumt mit einem hartnäckigen Missverständnis auf: dass Gefühle uns schwächen. Ihr Ansatz ist radikal einfach und gleichzeitig erstaunlich entlastend. Gefühle zeigen uns, was wichtig ist. Sie markieren Grenzen, Bedürfnisse, Verletzungen und Sehnsüchte. Nicht sie sind das Problem – unser Umgang mit ihnen ist es.
In ihrer Darstellung werden Angst, Trauer, Wut oder Scham nicht als Störungen betrachtet, sondern als Signale. Wer sie verdrängt, verliert Orientierung. Wer sie wahrnimmt, beginnt, sich selbst zu verstehen. Konrad zeigt, wie emotionales Erkennen fast immer dem Denken vorausgeht. Erst wenn wir spüren, was in uns arbeitet, können wir entscheiden, wie wir handeln wollen.
Diese Sichtweise ist eine Wohltat in einer Zeit, die uns zu emotionaler Robustheit erzieht. Konrad macht deutlich: Stärke entsteht nicht durch Unterdrückung, sondern durch Bewusstheit.
Miniaturen aus dem echten Leben
„Fühlen, was ist“ besteht aus 48 kurzen Episoden – Beobachtungen, Begegnungen, Momentaufnahmen. Jede Geschichte greift eine menschliche Erfahrung auf, die uns vertraut ist: die Angst, nicht genug zu sein. Das Festhalten an alten Kränkungen. Die Sehnsucht nach Liebe, die wir nicht benennen können. Die Wut, die plötzlich ausbricht, weil ein altes Muster aktiviert wird.
Konrad wählt bewusst die Form der kleinen Erzählung. In wenigen Absätzen schafft sie eine Klarheit, für die andere ein ganzes Kapitel bräuchten. Das Buch ist kein Ratgeber im klassischen Sinn, sondern eine Sammlung poetischer, psychologisch präziser Spiegel. Und wie jeder gute Spiegel zeigt er nicht nur das, was wir ohnehin kennen – sondern auch das, was wir sonst übersehen.
Was alte Wunden mit heutigen Gefühlen zu tun haben
Ein wiederkehrendes Motiv ist die lange Haltbarkeit emotionaler Spuren. Viele unserer heutigen Reaktionen sind Echo vergangener Erfahrungen. Konrad erklärt auf zugängliche Weise, wie familiäre Muster, alte Entwertungen oder nicht gelebte Bedürfnisse sich in unseren Gefühlen bemerkbar machen. Oft sind sie leise Hintergrundmusik. Manchmal aber kippt ein ganzes Lebensgefühl, weil eine alte Verletzung wieder ans Licht drängt.
Das Buch macht Mut, diese inneren Verknüpfungen wahrzunehmen – nicht um in der Vergangenheit zu versinken, sondern um die Gegenwart zu entlasten. Wer versteht, woher ein Gefühl kommt, kann es einordnen. Und wer es einordnen kann, verliert die Angst davor.
Die Kunst des Loslassens
Loslassen ist eines der zentralen Themen. Und Konrad beschreibt es nicht als heroischen Befreiungsschlag, sondern als einen Prozess, der in winzigen Schritten geschieht. Wir können Wut oder Trauer anerkennen, ohne in ihnen zu ertrinken. Wir können vergeben, ohne zu beschönigen. Wir können uns lösen, ohne zu versteinern.
Konrad macht deutlich: Loslassen ist kein radikaler Schnitt, sondern eine allmähliche Rahmung von Gefühlen. Wir geben ihnen Raum, aber nicht mehr die Regie. Dieser Ansatz ist wohltuend unpathetisch. Er nimmt Druck heraus und ersetzt ihn durch Handlungsspielraum.
Fühlen als Weg zur Selbstwirksamkeit
Viele Leser werden sich an den Stellen wiederfinden, in denen es um Selbstwirksamkeit geht – das Gefühl, das eigene Leben gestalten zu können. Konrad zeigt, dass emotionale Klarheit die Grundlage für Selbstwirksamkeit ist. Wer seine Gefühle nicht kennt, wird von ihnen gesteuert. Wer sie erkennt, kann entscheiden.
Das betrifft Beziehungen, berufliche Entscheidungen, den Umgang mit Krisen, ja sogar alltägliche Konflikte. In diesen Momenten wird das Buch fast zu einer Art innerem Trainingsraum: Es stärkt das Vertrauen, dass wir schwierige Gefühle aushalten und gleichzeitig gute Entscheidungen treffen können.
Beziehungen unter dem Brennglas
Besonders eindrücklich ist Konrads Blick auf die Liebe. Sie beschreibt, wie Missverständnisse entstehen, lange bevor Worte fallen. Gefühle, die wir nicht benennen können, verwandeln sich in Vorwürfe, Rückzug, Überforderung. Nähe scheitert selten an mangelndem Willen – viel häufiger an ungeklärten Emotionen.
Konrad gibt keine Tipps. Sie tut etwas Besseres: Sie zeigt Mechanismen. Wer versteht, wie eigene und fremde Gefühle sich gegenseitig beeinflussen, kommuniziert anders. Ehrlicher. Langsamer. Wärmer. Das Buch wird dadurch zu einem stillen Begleiter für Paare, Eltern, Freunde – für jeden, der Beziehungen nicht nur leben, sondern verstehen möchte.
Für wen dieses Buch ein Geschenk ist
Dieses Buch ist ideal für Menschen, die viel fühlen – und für jene, die es verlernt haben. Für Menschen, die funktionieren, aber nicht ankommen. Für Berufstätige, die zwischen Terminen ihre eigenen Bedürfnisse überhören. Für alle, die merken, dass ihr Leben schneller geworden ist als ihr Inneres.
Die Kürze des Buches macht es leicht zugänglich. Man blättert hinein, liest zwei Seiten – und hat das Gefühl, dass etwas in einem endlich Worte bekommt.
Der stille Nachhall
Wenn man „Fühlen, was ist“ schließt, bleibt kein überwältigender Rat zurück, sondern eine Erfahrung: Fühlen ist kein Risiko, sondern Ressource. Und je besser wir diese Ressource nutzen, desto klarer wird unser Leben.
Konrads Buch wirkt wie ein freundlicher Hinweis an uns alle: Wir müssen nicht perfekt sein, nur ehrlich. Uns selbst gegenüber zuerst.
Fühlen, was ist – Wie wir den Mut finden, uns selbst zu vertrauen
Autorin: Dr. Sandra Konrad
Piper Verlag
Erscheinungsjahr: 2025
176 Seiten
Hardcover
ISBN: 978-3-492-07312-7
Preis: 20 Euro
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Video Teaser Fühlen, was ist
- Vom Labyrinth menschlicher GefühleOb es uns gefällt oder nicht: Wir Menschen sind verletzlich, vor allem in unseren Gefühlen

